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Hierbei handelt es sich um einen Archivbeitrag des GVP-Vorgängerverbands „iGZ“.
Andrea Resigkeit
Rund 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht – mehr als jemals zuvor. Während bisher 90 Prozent aller Geflüchteten in den Ländern des globalen Südens, meist bei ihren Nachbarn, aufgenommen werden, steigt die Zahl derer, die den Weg in die nördlichen Zivilisationsgesellschaften suchen, ständig. Krieg, Hunger, Vertreibung lässt Menschen auf Wanderschaft gehen – meist mit dem Risiko des Todes. Auch Deutschland war immer Ziel. Wie verändert Migration die Zufluchtsländer?
Migrations- und Fluchtbewegungen von Menschen sind zu allen Zeiten zu beobachten und fixer Bestandteil der Kulturgeschichte. Auch die Zuwanderung von Menschen nach Europa ist keine nationale Ausnahme, sondern historische und globale Normalität. Sie verändern die soziokulturellen und materiellen Lebensbedingungen ihrer neuen Heimat. Pizza und Döner traten ihren Siegeszug in deutsche Dörfer an, das Hähnchen aus dem Wienerwald wich dem neuen Geschmackstrend. In der zunehmenden Komplexitätssteigerung durch sich überschneidende Formen sozialer, kultureller und religiöser Unterschiede erwachsen seit den 1950er Jahren neue Herausforderungen. Aber der Blick der historischen Kulturwissenschaften in die Menschheitsgeschichte – insbesondere in die mehr als viertausendjährige Geschichte des Alten Orients – bestätigt, dass langfristig gerade diejenigen Gesellschaften besonders erfolgreich waren, die diese stetige kulturelle Aushandlungs- und Integrationsleistung über lange Zeiträume hinweg erbracht haben. Für Deutschland hieß es vor allem bei der zweiten Generation der früheren „Gastarbeiter“, nicht übergangsweise in Deutschland zu bleiben, sondern hier eine „Aufstiegsperspektive“ zu haben. Im Duisburger Projekt LOS berichten junge türkische Migranten, dass bereits ein Wohnortwechsel das soziale Ansehen steigerte, „obwohl wir uns dort fremd vorkamen“.
Die kulturwissenschaftliche Forschung zeigt, dass Gesellschaften und ihre herausragenden kulturellen Leistungen stets auch auf transkulturellem Erbe fußen. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass in Zukunft unverwechselbar „Deutsches“ und unverwechselbar „Europäisches“ nur dann entstehen und bestehen kann, wenn Deutschland und Europa weiterhin Orte transkulturellen Austauschs bleiben und die Bereitschaft aufbringen, die transkulturellen Angebote globaler Vernetzungsprozesse anzunehmen und produktiv für sich zu nutzen, so Prof. Dr. Markus Hilgert bereits 2018 in einem Vortrag.
Nach dem Anwerbestopp von Gastarbeitern wird seit Mitte der 1970er Jahre das Wanderungsverhalten der Ausländerinnen und Ausländer von anderen Faktoren beeinflusst. Die Öffnung der Grenzen zu Osteuropa und die Flucht vieler Menschen vor dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien hatte zu einem Höhepunkt 1993 mit 1,3 Millionen Zuzügen geführt. Neuregelungen bewirkten, dass Einreisen zum Zweck der Asylsuche nach 1993 erheblich zurückgingen. Bis 2006 war die Zuwanderung mit einigen Schwankungen eher rückläufig; in den Folgejahren stieg die Zuwanderung wieder an. Einige Ursachen sind beispielsweise EU-Erweiterungen, Freizügigkeitsregelungen, Abkommen mit Ländern der Europäischen Freihandelszone (EFTA-Länder) oder veränderte Visaregelungen. Zusätzlich sorgten die Wirtschaftskrisen in den südeuropäischen Ländern 2004 beziehungsweise 2007 für eine sprunghaft ansteigende Zuwanderung. Seit 2014 sind es die Schutzsuchenden aus den von Krieg gezeichneten Ländern, vor allem Syrien, Afghanistan und Irak. So wurden im Jahr 2014 rund 1,3 Millionen Zuzüge ausländischer Personen verzeichnet. Im Jahr 2015 wurde mit zwei Millionen Zuzügen der bisherige höchste Stand erreicht. Aber es gab auch Abwanderungen, die 1993 mit 711.000 Fortzügen einen ersten Höhepunkt erreichten. Danach war die Tendenz bis 2007 rückläufig, abgesehen von einem vorübergehenden Anstieg in den Jahren 1997, 1998 und 2004 infolge der Rückkehr bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge.
Trotz des dynamischen Prozesses und einer sinkenden Bevölkerungszahl werden die Themen Migration, Flucht und Asyl in der Öffentlichkeit und in der Politik durchaus kontrovers diskutiert und die Diskussion von einer faktenbasierten auf eine moralische Ebene gehoben. In den Kontroversen werden Bedeutung und Funktion von Kultur und Religion für den sozialen Zusammenhalt zumeist über Öffnung und Schließung von Grenzen sowie über Bleibe- und Partizipationsmöglichkeiten von Individuen und Gruppen neu verhandelt. Die Diskussion geht von der Nutzenperspektive im ökonomischen Sinne aus. Wie auch derzeit die politische Diskussion spiegelt. Der gewünschte Zuzug von 500.000 Fachkräften jährlich zeigt dies deutlich. Die Folgen einer überwiegend problembehafteten, aber politisch wirkmächtigen Perspektive auf die globalen Fluchtbewegungen werden dabei oft ausgeblendet. Zumindest hier hat die Bundesregierung einen neuen Ansatz gewählt. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration hat erstmals den Auftrag, ein Gutachten zu erstellen, das die Auswirkungen des Klimas auf die Wanderungsbewegungen erläutern soll.
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